Meine Auszeit

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Franz-Xaver Hiestand

- Franz-Xaver Hiestand

Der Jesuitenpater Franz-Xaver Hiestand hat sich vier Monate aus seinem bisherigen Alltagsleben verabschiedet. Rückblickend erzählt er persönlich von der reinigenden Wirkung täglicher Routinen, Wanderungen oberhalb der Baumgrenze und der Kraft menschlicher Gemeinschaft.

Der Student wollte mir schon lange einige Fragen ausführlicher darlegen. Immer wieder hatte ich ihn vertröstet. Doch nun besucht er mich in der Gegend in Österreich, in der ich meine Sabbatzeit verbringe. Eine Stunde sind wir schon unterwegs im grün-gelben, rotbraunen Herbstwald. Ich fühle mich aufnahmefähig, wie ich es sonst nur nach acht, neun Tagen Fasten mit Tee und Wasser bin. Nach zwei Monaten Auszeit durchdringen mich die Natur, die Symphonie der Herbstfarben und die Worte des Gastes. Es fällt leicht, den Fragen des Mannes bis in all ihre Verästelungen zu folgen und manchmal kurz zu antworten. Wir wandern weiter. Er selbst formuliert, welche Schritte er als nächstes zu tun gedenkt. Irgendwann kehren wir in die noch sommerliche Stadt zurück. Einen Monat später mailt er, dass sich nach unserem Gespräch vieles fast wunderbar gefügt habe.

Vordergründig mag es sich hierbei um einen alltäglichen Moment in der Ratgeber-Szene handeln. Doch für mich manifestierte sich in ihm, welch konstruktive Dynamik von einer Auszeit ausgehen kann. Irgendwann überkommt heute die meisten Menschen die Sehnsucht, sich für längere Zeit aus dem beruflichen und familiären Alltag zu verabschieden. Unzählig sind die Möglichkeiten, mit dieser Sehnsucht zu flirten, unzählig die Angebote, ihr eine Weile nachzugeben. «Auszeit zur rechten Zeit», lautet das Zauberwort. Vielerorts haben Frauen und Männer in der Ferne einen Trompetenklang vernommen wie der namenlose Mensch in Franz Kafkas Erzählung Der Aufbruch. Sie wollen losziehen und kennen nur ein Ziel: «Nur weg von hier, nur weg von hier.»

Kein Ende in Sicht…

Nach arbeitsintensiven Jahren in der Hochschulseelsorge in Luzern und Zürich beseelte auch mich die Hoffnung, anderswo als in der gewohnten Umgebung im Rahmen eines Time-out die bisherigen Lebens- und Arbeitsrhythmen konzentriert zu unterbrechen. Immer wieder musste ich bei der Planung dieser Zeit an die Überlegungen des in Berlin lehrenden Philosophen Byung-Chul Han denken. Er macht darauf aufmerksam, dass an der heutigen Zeiterfahrung nicht die Beschleunigung das Beunruhigende ist, sondern der fehlende Schluss, der fehlende Takt und Rhythmus der Dinge. Es existieren, so Han, «keine Dämme mehr, die den Fluss der Zeit regeln, artikulieren oder rhythmisieren, die die Zeit halten und verhalten könnten, indem sie ihr einen Halt geben, einen Halt in seinem schönen doppelten Sinne».

“An der heutigen Zeiterfahrung ist nicht die Beschleunigung das Beunruhigende, sondern der fehlende Schluss, der fehlende Takt und Rhyhtmus der Dinge.” — Byung-Chul Han, Philosoph

Als mein Vorgesetzter mir dann eine viermonatige Auszeit gewährte, wollte ich an einen Ort hingehen, der es erlaubt, einerseits etliche Pendenzen, die in Zürich liegengeblieben waren, gründlicher abzutragen, als dies in der vertrauten Umgebung möglich wäre, und anderseits immer wieder bewusst die Augen zu schliessen. Die Jesuitengemeinschaft von Innsbruck bot sich dafür an. Hier leben mitten in der Stadt, nahe den Alpen, Theologie- Studenten und -Professoren aus dem Orden zusammen mit Seelsorgern, welche in der anliegenden Jesuitenkirche tätig sind. Sie unterbrechen ihre Arbeit regelmässig durch gemeinsame Gebets-, Gottesdienst- und Essenszeiten, lassen daneben aber den Gästen eine grosse Freiheit, den eigenen Interessen verantwortet nachzugehen.

In der Tat hielt der Ort alles, was er versprochen hatte. Schnell erkundete ich das alpine Umfeld der Stadt. Die Baumgrenze der nahegelegenen Gebirgskette lässt sich leicht erreichen. Und jenseits des Grats breitet sich eine erhabene Arena der Einsamkeit aus. Die Ruhe steckt an. Die äussere Stille dringt ins eigene Innere. Alltagssorgen entziehen sich allmählich dem Blickfeld.

Die Veränderung

Während ich in Zürich täglich zahlreiche Entscheidungen fällen musste, wird deren Zahl jetzt überschaubar. Nur noch wenige neue Informationen dringen zu mir. Ich kann mich dem vertieft widmen, was ist und was war. Beinahe mit Händen zu greifen ist, wie die eigene Kreativität wächst und verloren geglaubte Kräfte zurückkehren. Was sich zeigt, erscheint klarer umrissen als zuvor. Die gemeinsamen Zeiten mit den Jesuiten, die mir mit Anteilnahme und respektvoller Distanz begegnen, ermöglichen ein humanes, produktives Klima. Nicht unerwartet verstärkt sich auch der Wunsch, öfters als sonst zu beten. Es ist, als würde ich in einer abgeschwächten Form Exerzitien machen.

In den klassischen Exerzitien, die Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens, der Welt hinterlassen hat, begeben sich Menschen bewusst für 30 Tage in die Stille, versenken sich mehrmals täglich, jeweils zur selben Zeit, in bestimmte Stellen aus der Bibel und bringen diese mit ihrem eigenen Leben in Verbindung. Sie sprechen nicht, ausser mit jener Person, welche sie während dieser Tage begleiten, aber nicht im Geringsten manipulieren darf.

Obwohl ich jetzt zwischendurch spreche und manche Nachrichten der Aussenwelt aufnehme, kommen viele Prozesse in Gang, die ich aus den klassischen Exerzitien kenne: eine vertiefte Selbstvergewisserung, die Entfaltung eines sättigenden Schweigens oder eine wachsende Gelassenheit. Ausserdem scheint es, als würden alle Sinnesorgane einem natürlichen und umfassenden Reinigungsprozess unterworfen.

Den eigenen Rhythmus finden

Peter Sloterdijk hat bereits vor Jahren Formen des Trainings analysiert, welche die Zeit mit Hilfe des Rhythmus strukturieren. Einen gedanklichen Bogen vom antiken Sport über die religiöse Askese bis zur modernen Gelehrsamkeit spannend, zeigt er auf, wie Menschen religiöse, literarische, sportliche oder therapeutische Tätigkeiten einüben und wiederholen. Indem sie regelmässig üben, prägen sie nicht nur ihr Dasein, sondern betten dieses auch in einen zeitlichen Fluss ein.

Die von Sloterdijk beschriebenen Verhaltensweisen stehen in der jahrhundertealten Tradition von Übungen, die es dem Individuum einerseits erlauben, für eine begrenzte Zeit aus den gewohnten zeitlichen Bahnen herauszutreten. Und anderseits helfen sie ihm, die eigene Zeit zu ordnen. Im buchstäblichen Sinne des Wortes sind Exerzitien solche Übungen. Auch meine strukturierte Auszeit trägt Züge solchen Übens.

Engagiert die Augen schliessen

Langeweile keimt in diesen Tagen nicht auf. Die Rückblicke auf wichtige Erfahrungen der vergangenen Jahre und die Lust, Liegengebliebenes endlich mit der ersehnten Sorgfalt bewältigen zu können, sind zu stimulierend. Die Mischung von geistiger Tätigkeit und Rückzug, begleitet vom spürbaren Wohlwollen der Mit-Jesuiten, erzeugt eine Stimmung, in der sich wohl die überdurchschnittlich hohe Ausschüttung von Glückshormonen nachweisen liesse.

Tücken, Fallen und Abgründe hätten sich wohl offenbart, wenn ich den Tagen keinen festen Rahmen gegeben hätte. Und sehr hilfreich ist es, dass Angehörige, Freunde und Mitarbeitende wissen, welchen Charakter meine Auszeit hat und in welchem Grad wir in dieser Zeit miteinander in Verbindung bleiben.

Es ist nicht einmal nötig, sich rigide gegen die verschiedenen Kommunikationsmittel zu wehren, die sonst den Alltag prägen. Der für viele Menschen unerbittlich hämmernde Imperativ, sich ständig mitteilen zu müssen, verliert seine dämonischen Züge. Von selbst wächst die Lust, lange Texte und dicke Bücher zu lesen. Jetzt ist die Kraft da, einem feinsinnigen Essay in seine komplexen, auch widerspenstigen Gedankenbewegungen zu folgen.

Und vor allem verbindet sich der Geist nun leicht mit jenen Menschen, die einem aufgrund ihres Engagements nahestehen oder weil ich mit ihnen befreundet bin. Ich muss nicht einmal direkt von ihnen hören. Sie kommen auch so zu mir. Solitaire et solidaire wird dieser Zustand in Anlehnung an Albert Camus genannt: Ein Programm und eine erfüllbare Verheissung für alle, die engagiert die Augen schliessen wollen.

Franz-Xaver Hiestand (*1962) ist Superior der Zürcher Jesuitengemeinschaft und verantwortlich für das aki, die katholische Hochschulgemeinde, Zürich. Im Lassalle- Haus Bad Schönbrunn leitete er die 30-tägigen Grossen Exerzitien und regelmässig Exerzitien mit Filmen. 2015 war er auch Mitglied der ökumenischen Jury am Filmfestival von Locarno. Rückblickend auf seine Auszeit meinte er: «Ich wunderte mich, wie tief und lange ich in den vier Monaten Auszeit schlafen konnte.»

 

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