Essen. Von kleinen und grossen Ritualen
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Monica Ursina Jäger
- Monica Ursina Jäger
Keto und Palo, Superfood und Sauerteig, Clean Eating und Intervallfasten: Ernährung ist in aller Munde. Diesen Frühling (2020) haben wir viel Zeit zu Hause verbracht und Ernährung hat plötzlich einen noch grösseren Stellenwert erhalten.
Nicht nur, ob es genügend Hefe im Kühlschrank hat oder das Olivenöl für zwei Wochen Quarantäne reichen würde. Manch einer, der mehr Zeit hatte als sonst, hat das Kochen wiederentdeckt. Und wer alle Mahlzeiten zu Hause vorbereitet, hat gemerkt, wie viel Zeit und Platz dies beansprucht. In der allgemeinen Verunsicherung haben wir uns auf die essentiellen Dinge konzentriert: Familie, Gesundheit, Essen.
Auch wenn es aus heutiger Sicht schon weit entfernt scheint. Es gab eine Zeit vor der Pandemie. In der Hektik jenes Alltags hat sich unsere Ernährung einem Effizienzstreben unterworfen, immer weniger Zeit wird der Zubereitung von Mahlzeiten zugesprochen. Mit dem Resultat, dass wir den Lebensmitteln und deren Rohprodukten immer weiter entfernt sind. Woher kommt eigentlich die Peperoni im Salat? Wie geht es dem Fisch, bevor er auf dem Grill landet? Wie den Erntehelfern, den Fleischproduzenten und den Landwirten?
Wir stecken in einer Ernährungskrise
Die aktuellen Herausforderungen rund um die Pandemie halten auf viele Lebensbereiche ein Vergrösserungsglas, insbesondere auch auf unsere Ernährung. Die Gesundheitskrise ist auch eine Ernährungskrise. Sie zeigt, dass vieles, was in unserem Ernährungssystem auf Optimierung getrimmt ist, letztlich viele Probleme mit sich bringt. Für die industrielle Landwirtschaft werden immer mehr Lebensräume beansprucht, der Mensch dringt für Palmöl und Fleischwirtschaft in Gegenden vor, in denen bis anhin kaum ein Austausch mit der Tierwelt stattgefunden hat. Dadurch wird die Möglichkeit, mit neuen Krankheitserregern in Kontakt zu kommen, immer grösser. Das globale Ernährungssystem ist von billigen Arbeitskräften abhängig, sei es auf den Feldern in Spanien – dem Obstgarten Europas – oder in den Fleischfabriken, wo Menschen für wenig Lohn und unter oftmals prekären gesundheitlichen Bedingungen körperlich extrem anstrengende Arbeit verrichten müssen. Die so produzierten Lebensmittel haben ihren Preis, dieser wird aber nicht nur von den Konsumierenden bezahlt, sondern auch von denen, die in dieser Wertschöpfungskette ganz unten stehen.
Essen schafft Nähe
Was vielen in dieser Zeit des Social Distancing aber auch bewusst wird, ist, wie viel Nähe über das Essen entstehen kann. Nicht nur die täglichen Mahlzeiten nehmen wir gerne mit einem Gegenüber ein, auch zu den grossen und kleinen Feiern, die heute zu etwas ganz Besonderem geworden sind, gehört das gemeinsame Essen. Dieses uralte soziale Ritual verbindet, versöhnt und befriedigt. Umso trauriger ist die Vorstellung von betagten Menschen, die ihre Zimmer zum Schutz ihrer Gesundheit nicht mehr verlassen dürfen. Ihnen fehlt nicht nur die Berührung einer pflegenden Hand, sondern auch der Blick in die Augen eines vertrauten Gegenübers beim Essen.
Jetzt, da wir in einen ungewissen Winter gehen, werden wir uns weiterhin viel Gedanken machen zu unseren Essritualen und Ernährung. Wird der Samichlaus dieses Jahr von Tür zu Tür ziehen und Nüsse an Kinder verteilen? Findet die Familienweihnachten dieses Jahr anstatt in der engen Stube draussen im Wald statt? Bei Glühwein und Feuerkartoffeln anstatt Fondue Chinoise? Der Mensch ist erfinderisch. Wir können nicht nur unsere kleinen Rituale rund ums Essen neu gestalten, wir haben auch die Fähigkeit, die grossen Systeme neu zu erfinden. Für eine resilientere Gesellschaft und einen gesunden Planeten.
Das Vögele Kultur Zentrum widmet seine nächste Ausstellung dem Thema Ernährung. In Kollaboration mit dem Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen ZHAW beleuchtet sie den Stellenwert, der dem Essen zugemessen wird und unter welchen Bedingungen Lebensmittel hergestellt werden.
Die Ausstellung «zu Tisch – Unsere Ernährung: Lust, Druck und Verantwortung» vom 10.11.2020-21.03.2021 unternimmt den Versuch, sich im Dschungel der vielen Informationen eine Übersicht zu verschaffen und wirft im Zusammenspiel von Kunst, Wissenschaft und Alltag wichtige Fragen nach Ritualen, Nähe, Wertschätzung, Nachhaltigkeit und der Zukunft unseres Planeten auf.
Monica Ursina Jäger ist freischaffende Künstlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am IUNR Institut für Umwelt und Natürliche Ressourcen ZHAW und ist Co-Kuratorin der Ausstellung zu Tisch – Unsere Ernährung: Lust, Druck und Verantwortung.